"Tausend und ein Morgen" funktioniert bestens als Hörbuch, als normales Buch möglicherweise nur bedingt. Von der Interpretation und den Timbres der drei Hörbuchsprecher, Birgit Minichmayr, Ilija Trojanow persönlich und Achim Buch, bin ich hingerissen!
Die Story ist im Prinzip einfach, ihre Darstellung ist es nicht, man muss sich mitnehmen lassen vom Flow und erstmal diese Fragen unterlassen: Wo bin ich, warum bin ich, was bin ich. Bist du nicht im Flow, ist es nicht dein Buch!
Trojanow zeichnet Zukunft, eine Zukunft, in der alle Probleme gelöst sind. Man lebt friedlich zusammen, jeder hat, was er braucht und es ist selbstverständlich, dass man seinen Teil zur Gemeinschaft beiträgt. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, in der Regel ist man sich einstimmig einig, wenn nicht, „ziehen nach der Abstimmung dennoch alle an einem Plan, so als ob sie von Anfang an dafür gewesen wären“. Diese moderat abweichenden Wortsetzungen Ilija Trojanows machen einen nicht unerheblichen Reiz des Romans aus. Natürlich weiß jeder, dass die Redewendung „an einem Strang ziehen“ heißt und nicht „an einem Plan“, aber der Autor modifiziert Redewendungen so gekonnt, listig und geschickt und humorig, dass man sich fragt, warum sich nicht seine Art der Redewendungen durchgesetzt hat, sie sind so einleuchtend. Das Vergnügen an diesen Neologismen nutzt sich niemals ab, zieht mich in seinen Bann und hat mich von Anfang an begeistert.
Die Handlung: Jeder hat seinen Platz in der neuen Gesellschaft, keiner ist unnütz, auch die Geschichtsforscher nicht, obwohl deren Arbeit häufig in Frage gestellt wird. Die Geschichtsforscher sind Zeitreisende mit Auftrag und einer hilfreichen KI im Kopf. Erstens sollen die Zeitreisenden herausfinden, wo im Damalsdort die entscheidende Wende stattfand, die die neue friedliche paradiesische Ordnung ermöglichte, darüber gibt es keine Aufzeichnungen - und zweitens dürfen sie versuchen, gezielte menschliche Tragödien/Fehlentscheidungen zu korrigieren.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Das Leseerlebnis ist ein großer Spaß! Nicht nur können mich die Neologismen verzücken „Das Selbst ist zwei Vögel“, auch die Stimmen der Interpreten tragen einen in die jeweilige Zeit und sie lesen so geschickt, dass man sich zurechtfindet, auch wenn die Zeitsprünge ins Damalsdort unvermittelt beginnen und enden, denn die Fernreisezeit ist begrenzt und nach einer Weile wird man zurückgezogen. Der Wechsel vom HierJetzt und dem Damalsdort ist ein hübsches Zusammenspiel . Es ist entzückend, wenn im Jetzthier die nachrückende Generation fragt, was „Geld“ ist oder „Eifersucht“ oder „Wettbewerb“ - warum man mehr haben möchte als der andere, ist ihnen unerfindlich, weil das sei ja sinnfrei. Auch Müll gibt es keinen oder nur ganz wenig, etwas Neues wird nur hergestellt, wenn etwas Altes wirklich zu nichts mehr zu gebrauchen ist. Herrlich.
Die Zeitreisen führen Ciya und ihre Schwester zu den Piraten der Karibik, in die Tiefen grausamster Kolonialzeit, danach in einen Religionskrieg, den sie zu verhindern wissen, in die Olympiade 1994 von Sarajevo- obwohl diese Abzweigung eigentlich ein Unfall ist, und in die russische Revolution. Diese Reise ist beschwerlich und muss immer wieder neu gerichtet und wiederholt werden, weil Domroe den Zeitspiegel unscharf gestellt hat. Und deshalb heißt der Roman Tausend und ein Morgen.
Die vielen Ideen des Autors sind einfach nur herrlich, in einer der bereisten Gesellschaften besteht das bevorzugte Zahlungsmittel zum Beispiel aus Spiritual Credit Points. Man findet sich zurecht, wenn man sich einlässt. Dass das Paradies zu guter Letzt dann doch bedroht ist, macht betroffen. Bleiben Menschen immer Menschen, unverbesserliche Machtmenschen? Zum Glück gibt es ja noch die KI.
Der Roman ist in gewisser Weise musikalisch oder auch unaufdringlich lautmalerisch oder poetisch; oft endet ein Kapitel mit denselben Worten, mit dem das nächste beginnt: so ewas liebe ich! Die Charaktere sind wunderschon gemeißelt.
Fazit: Ein herrlicher Lesespaß, der allerdings wegen der vielen Lautmalereien beziehungsweise seiner Poetik und wegen der Timbres der HörbuchSprecher am allerbesten als Hörbuch funktioniert. Ich werde Ausschau nach weiteren Werken des Autors halten!
Mein zweites Lesehighlight 2024!
Kategorie: Anspruchsvolle Literatur + SF
Verlag: S. Fischer, 2023
Als Hörbuch: Argon Verlag, 2023
Zeitreisezeit ins Damalsdort
Kurzmeinung: Mein zweites Lesehighlight 2024!
"Tausend und ein Morgen" funktioniert bestens als Hörbuch, als normales Buch möglicherweise nur bedingt. Von der Interpretation und den Timbres der drei Hörbuchsprecher, Birgit Minichmayr, Ilija Trojanow persönlich und Achim Buch, bin ich hingerissen!
Die Story ist im Prinzip einfach, ihre Darstellung ist es nicht, man muss sich mitnehmen lassen vom Flow und erstmal diese Fragen unterlassen: Wo bin ich, warum bin ich, was bin ich. Bist du nicht im Flow, ist es nicht dein Buch!
Trojanow zeichnet Zukunft, eine Zukunft, in der alle Probleme gelöst sind. Man lebt friedlich zusammen, jeder hat, was er braucht und es ist selbstverständlich, dass man seinen Teil zur Gemeinschaft beiträgt. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, in der Regel ist man sich einstimmig einig, wenn nicht, „ziehen nach der Abstimmung dennoch alle an einem Plan, so als ob sie von Anfang an dafür gewesen wären“. Diese moderat abweichenden Wortsetzungen Ilija Trojanows machen einen nicht unerheblichen Reiz des Romans aus. Natürlich weiß jeder, dass die Redewendung „an einem Strang ziehen“ heißt und nicht „an einem Plan“, aber der Autor modifiziert Redewendungen so gekonnt, listig und geschickt und humorig, dass man sich fragt, warum sich nicht seine Art der Redewendungen durchgesetzt hat, sie sind so einleuchtend. Das Vergnügen an diesen Neologismen nutzt sich niemals ab, zieht mich in seinen Bann und hat mich von Anfang an begeistert.
Die Handlung: Jeder hat seinen Platz in der neuen Gesellschaft, keiner ist unnütz, auch die Geschichtsforscher nicht, obwohl deren Arbeit häufig in Frage gestellt wird. Die Geschichtsforscher sind Zeitreisende mit Auftrag und einer hilfreichen KI im Kopf. Erstens sollen die Zeitreisenden herausfinden, wo im Damalsdort die entscheidende Wende stattfand, die die neue friedliche paradiesische Ordnung ermöglichte, darüber gibt es keine Aufzeichnungen - und zweitens dürfen sie versuchen, gezielte menschliche Tragödien/Fehlentscheidungen zu korrigieren.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Das Leseerlebnis ist ein großer Spaß! Nicht nur können mich die Neologismen verzücken „Das Selbst ist zwei Vögel“, auch die Stimmen der Interpreten tragen einen in die jeweilige Zeit und sie lesen so geschickt, dass man sich zurechtfindet, auch wenn die Zeitsprünge ins Damalsdort unvermittelt beginnen und enden, denn die Fernreisezeit ist begrenzt und nach einer Weile wird man zurückgezogen. Der Wechsel vom HierJetzt und dem Damalsdort ist ein hübsches Zusammenspiel . Es ist entzückend, wenn im Jetzthier die nachrückende Generation fragt, was „Geld“ ist oder „Eifersucht“ oder „Wettbewerb“ - warum man mehr haben möchte als der andere, ist ihnen unerfindlich, weil das sei ja sinnfrei. Auch Müll gibt es keinen oder nur ganz wenig, etwas Neues wird nur hergestellt, wenn etwas Altes wirklich zu nichts mehr zu gebrauchen ist. Herrlich.
Die Zeitreisen führen Ciya und ihre Schwester zu den Piraten der Karibik, in die Tiefen grausamster Kolonialzeit, danach in einen Religionskrieg, den sie zu verhindern wissen, in die Olympiade 1994 von Sarajevo- obwohl diese Abzweigung eigentlich ein Unfall ist, und in die russische Revolution. Diese Reise ist beschwerlich und muss immer wieder neu gerichtet und wiederholt werden, weil Domroe den Zeitspiegel unscharf gestellt hat. Und deshalb heißt der Roman Tausend und ein Morgen.
Die vielen Ideen des Autors sind einfach nur herrlich, in einer der bereisten Gesellschaften besteht das bevorzugte Zahlungsmittel zum Beispiel aus Spiritual Credit Points. Man findet sich zurecht, wenn man sich einlässt. Dass das Paradies zu guter Letzt dann doch bedroht ist, macht betroffen. Bleiben Menschen immer Menschen, unverbesserliche Machtmenschen? Zum Glück gibt es ja noch die KI.
Der Roman ist in gewisser Weise musikalisch oder auch unaufdringlich lautmalerisch oder poetisch; oft endet ein Kapitel mit denselben Worten, mit dem das nächste beginnt: so ewas liebe ich! Die Charaktere sind wunderschon gemeißelt.
Fazit: Ein herrlicher Lesespaß, der allerdings wegen der vielen Lautmalereien beziehungsweise seiner Poetik und wegen der Timbres der HörbuchSprecher am allerbesten als Hörbuch funktioniert. Ich werde Ausschau nach weiteren Werken des Autors halten!
Mein zweites Lesehighlight 2024!
Kategorie: Anspruchsvolle Literatur + SF
Verlag: S. Fischer, 2023
Als Hörbuch: Argon Verlag, 2023